
Stadt – Struktur – Identifikation
Mit großzügig angelegten öffentlichen und privaten Freiräumen und einer Vielfalt an Gebäudetypen in überschaubaren Nachbarschaften legte Reichow den Grundstein für die heute noch gültige soziale Mischung in der Sennestadt. Gemeinschaft und Orientierung drücken sich im Städtebau durch gezielte Höhenstaffelungen und strukturgebende Abgrenzung überschaubarer Hausgruppen aus. Ein eigenes Farbkonzept unterstützte die Hausgruppenbildung und Hochhäuser dienen als rhythmusgebende Landmarken entlang der Sammelstraßen. Alle öffentlichen Gebäude der Sennestadt liegen entlang des T-förmigen Grünzugs. Reichow nutzte das Relief der Landschaft mit dem natürlichen Gefälle und einem Bach inmitten des Grünzuges als Orientierungshilfe.
Straßensystem und Bebauung formen den einzigartigen Verbund aus Siedlungsstruktur und Landschaft und unterstützen so das Gefühl der Bindung an eine Gesamtform der Stadtlandschaft, die Reichow als „Ausdruck einer wiedergewonnenen Gemeinschaft“ sah.
Soziale Architektur
Öffentliche Gebäude dienen der Gemeinschaft und haben damit eine zentrale Funktion für das Sozialgefüge einer Stadt. Die Identifikation mit dem Quartier, dem Stadtteil bzw. der Stadt und ihrer Gesellschaft geht aus von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben z. B. in Kindergärten, Schulen, Kirchen, Jugendzentren und in einem Rathaus. Dass es für unterschiedliche Menschen auch unterschiedliche Sozialräume braucht, versteht sich von selbst.
Dass diese Erkenntnis in der Stadtplanung einen hohen Stellenwert hat, ist hingegen nicht selbstverständlich. Bei seiner Stadtplanung hat Reichow diese Sozialräume von vornherein mitgedacht und die öffentlichen Gebäude in wohl gewählten Abständen entlang des zentralen Grünzuges angelegt. Architektonisch bilden sie ein Ensemble. In roter Farbe sollten ursprünglich alle öffentlichen Gebäude der Sennestadt erstrahlen. Sie sollten sich in ihrer Materialität und Farbigkeit von den Wohngebäuden unterscheiden. Bernhard Reichow ließ es sich nicht nehmen, zahlreiche Gebäude für Gruppen und Gemeinschaften selbst zu planen. Nachfolgend sind zwei seiner Gebäude exemplarisch gewürdigt.
Das Sennestadthaus

Das Sennestadthaus – einst als Rathaus geplant – bildet die sogenannte Stadtkrone und wurde 1973 zeitgleich mit der kommunalen Neugliederung fertiggestellt. Verwaltungs und soziale Dienstleistungen sind dort gebündelt. Auf einer künstlichen Halbinsel in einem Teich gelegen ist es das höchste Gebäude in der Sennestadt und der zentrale Identifikationspunkt. Bemerkenswert ist seine Architektursprache.
Der gegliederten Fassade vorgelagert schwebt ein Vortragsaal über dem Teich, der als Ratssaal geplant, aber nie als solcher genutzt worden ist. Ein Hingucker ist das Kunstwerk, das sich auf dem Gebäude befindet. Es besteht aus lebensgroßen Figuren, die sich im Balance-Akt auf den Gebäudekanten und einem „Schwebebalken“ auf dem Dach bewegen. Die „Gratwanderung“– so der Name des Kunstwerkes – symbolisiert die Situation der Sennestadt. Beim Bau der Sennestadt stand wie heute, in der Zeit des demographischen Wandels, die gleiche Frage im Raum: Hat das Wagnis Sennestadt eine Zukunft?
Unverändert fällt jedem Durchreisenden das markante Sennestadthaus auf – was aber lange nicht auffiel, waren die zahlreichen Baumängel, die mit den Jahren aufgetreten waren und zu erheblichem Leerstand führten. Um das Gebäude zu erhalten und die zentralen Angebote vor Ort zu sicher, hat die Sennestadt GmbH das Sennestadthaus von der Stadt Bielefeld im Jahr 2006 übernommen und saniert. Heute ist das Sennestadthaus mit energetisch sanierter Fassade, renovierten gesellschaftlich genutzten Räumen und einer modernen Haustechnik wieder voll vermietet und bietet ein breites Spektrum an sozialen und Verwaltungsdienstleistungen.
Die Oststadtschule
Die 1959 von Reichow geplante Schule wurde später Adolf-Reichwein-Schule genannt und war die erste Ganztagshauptschule in Nordrhein-Westfalen. Das entstandene Gebäude weist eine Struktur auf, bei der, ausgehend von der Schulaula im Zentrum, die Gebüdeflügel strahlenförmig in die Landschaft zeigen. Die Aula ist das „Herz“ des gesamten Gebäudes und sorgt für eine Verbindung der Gebäudeteile.
In der besonderen Architektur des Gebäudes wird ein pädagogisches Konzept der 50er Jahre umgesetzt, das konsequent den Schüler in den Mittelpunkt stellt.
Nach der Zusammenlegung zweier Hauptschulen in der Sennestadt und der Zwischennutzung durch eine Grundschule während deren Sanierungszeit steht das Gebäude nun seit dem Jahr 2012 leer. Es wurde eine Lösung gesucht, die unter wirtschaftlichen, funktionalen und stadtentwicklungspolitischen Gesichtspunkten tragfähig erscheint.
Reichow für das 21. Jahrhundert

Die Herausforderung für die Sennestadt liegt in der Weiterentwicklung. Als Stadtumbaugebiet steht der Stadtteil „auf der Kippe“. In einem kooperativen Leitbildprozess ist es gelungen, den Pioniergeist der Gründerzeit wieder zu wecken. Seitdem sind 35 Projekte angestoßen, durch die die Stadtentwicklung wieder eine Dynamik erhält, die geeignet ist, dem Motto „Reichow für das 21. Jahrhundert“ gerecht zu werden.
Dabei wird der T-förmige Grünzug zur Park- und Spiellandschaft qualifiziert, ein Konzept zur energetischen Stadtsanierung erstellt und die Umsetzung durch einen Sanierungsmanager verfolgt – man ist KWK-Modellkommune. Sogar die Stadtbahn soll nun in den am weitesten vom Bielefeld Zentrum entfernten Stadtbezirk verlängert werden. Die Sennestadt GmbH koordiniert diese Themen der Stadtentwicklung und trägt durch die Umnutzung einer zentralen Industriebrache in eine Klimaschutzsiedlung zur Neuausrichtung des Stadtbezirks bei.
Man mag schwanken zwischen Euphorie und Skepsis – bei all diesen Entwicklungen muss darauf geachtet werden, dass das baukulturelle Erbe von Reichow bewahrt wird, insbesondere seine identitätsstiftende soziale Architektur. Denn nur „die Bäume mit tiefen Wurzeln sind die, die hoch wachsen“ (Frederic Mistral).
Die Rolle der Sennestadt GmbH
Die Sennestadt GmbH wurde 1956 als gemeinnützige Entwicklungsund Erschließungsgesellschaft gegründet, um die Reichowplanung zu realisieren.
Die Gesellschaft trug das wirtschaftliche Risiko für den Ankauf der Flächen, die Entwicklung sowie die Vermarktung des darlehensfinanzierten Projektes.
Die Aufgabe bestand darin, im Bereich der Gemeinde Senne II quasi „auf der grünen Wiese“ das Wachstum der neuen Großsiedlung zu bewältigen.
Auch heute noch ist die Sennestadt GmbH aktiv, um die Stadtentwicklung von damals innovativ und konsequent weiterzuführen. Unter dem Motto „Reichow für das 21. Jahrhundert“ gilt es, die in die Jahre gekommene Stadtneugründung der 60er Jahre fit für die Zukunft zu machen.
Die Sennestadt

Die Sennestadt ist aufgrund der Wohnungsnot in der Nachkriegszeit im Suüden von Bielefeld entstanden, um ein Heimatort für viele Flüchtlinge zu werden. Der 1954 preisgekrönte Entwurf des Stadtplaners Hans Bernhard Reichow galt als ein gepriesenes Beispiel des „organischen Städtebaus“ und der modernen autogerechten Stadt der Zukunft.
Auch international, beispielsweise auf Architekturkongressen in Wien oder Tokio, galt die Sennestadt als Paradebeispiel für den Städtebau. Bereits 1965 wurden ihr die Stadtrechte verliehen – 1973 wurde die Sennestadt als Stadtteil in die Großstadt Bielefeld eingemeindet. Heute gilt sie als historischer Stadtkern mit besonderer Denkmalbedeutung.